Leseprobe Nr. 1 aus „Fernando ist futsch“ von Gesine Schulz:
Die Villa Pinkernell
„Das ist es?“, fragte Billie. „Das ist das Haus? Da sollen wir wohnen?“
Ihre Mutter stellte den Motor aus. „Ja“, sagte sie. „Wir sind da.“
Billie beugte sich vor. „Es sieht ein bisschen aus wie ein Spukhaus, oder?“
„Aber nein! Na ja. Ein bisschen, vielleicht. Weil es jetzt diesig ist und gerade dunkel wird. Als ich im letzten Monat hier war, schien die Sonne. Da sah es sehr nett aus.“
Ihre Mutter machte keine Anstalten, aus dem Auto zu steigen. Es war eine lange Fahrt gewesen. Von Berlin immer weiter und weiter Richtung Westen. Billie hatte schon befürchtet, sie würden diesen kleinen Ort hier verpassen und plötzlich in Holland sein oder schon am Meer, kurz vor England. Und vielleicht wäre das auch besser. Ausland, das war doch was.
„WO ziehst du hin?“, hatten sie in der Schule gefragt. „Nach Rabenstein? Ihhh! Wo ist denn das? Nie von gehört. Billie zieht aufs platte Land, Billie zieht aufs platte Land ...“
Und jetzt waren sie hier. Bloß, dass es nicht platt war, sondern hügelig. Drei Straßenlaternen schienen und ein halber Mond. Und einen Häuserblock weiter, nur dass es hier keine Häuserblocks gab, stand noch ein Haus, es war ganz dunkel.
„Irgendwann müssen wir aussteigen“, sagte Billies Mutter und gähnte.
„Ja“, sagte Billie. „Wie wär’s mit morgen, nach dem Frühstück?“ Oder nächstes Jahr?
„Morgen nach dem Frühstück müssen wir das Auto ausräumen. Ich muss es bis mittag bei der Mietwagenfirma abgeben, sonst kostet es einen Tag extra.“
Und sie mussten jetzt sparen. Weil Mam keine Stelle mehr hatte. Billie hatte ihm schreiben wollen, dem Mann, der den Verlag gekauft hatte, obwohl ihm schon ganz viele Verlage gehörten, und der ganz vielen Leuten gekündigt hatte.
„Das ist lieb, Billie“, hatte Mam gesagt. „aber es wird nichts nützen.“ Und so hatte Billie es gelassen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Vielleicht hätte sie sein Herz erweichen können. Dann müssten sie jetzt nicht in dieses unheimliche Haus ziehen. Und darin schlafen.
„Huuh! Mam! Hast du das gesehen?“
„Nur eine kleine Fledermaus, Billie. Ist das nicht schön? Hier sind wir mitten in der Natur. In Berlin habe ich nie eine Fledermaus gesehen.“
Nein, zum Glück nicht. Da flogen nur ganz normale Tauben rum und Flugzeuge und einmal ein grasgrüner Papagei. Eine Weile hatte Billie die Tauben auf der Fensterbank gefüttert. Bis sich Frau Bischof von unten wegen des Drecks beschwert hatte. Immer musste die wegen irgendwas meckern. Als Billie einmal den Hall im Hausflur testen wollte, hatte Frau Bischof die Polizei gerufen, weil sie dachte, jemand werde ermordet. Es war ein ganz toller Klang gewesen. Leider nur das eine Mal. Billie hatte dem Polizisten versprechen müssen nur noch im Schwimmbad so laut zu schreien. Aber DAS hatte gleich zwei Eintragungen ins Klassenbuch gegeben. Die erste, weil Frau Radtke, die Sportlehrerin, gedacht hatte, Billie sei am Ertrinken. Die Lehrerin war mit allen Klamotten ins Wasser gesprungen, um Billie zu retten. Merkwürdigerweise hatte sie sich gar nicht gefreut, als sie merkte, dass Billie überhaupt nicht in Gefahr war. Nein, sie hatte geschimpft und Billie ins Klassenbuch eingetragen. Und als Billie sagte, die Polizei persönlich habe ihr gesagt, sie solle im Schwimmbad schreien, hatte das die zweite Eintragung gegeben.
„Hier kannst du so viele Tauben füttern wie du willst, mein Schatz.“
„Au ja! Und schreien kann ich auch, nicht? Das ganze Haus für uns allein! Komm schon, Mam. Lass uns reingehen.“
Billie öffnete die Beifahrertür und kletterte aus dem Lieferwagen, in den alles verpackt war, was sie und ihre Mutter besaßen. Spielzeug, Kleidung, Bücher, Radio und Fernseher, Fotoalben, Billies Detektivausrüstung, ihr demoliertes Fahrrad und der Computer und der Bürokaktus ihrer Mutter. Alles andere - die Möbel, das Geschirr, Billies Mobiltelefon und ganz viel Krimskrams - hatten sie vor ihrem Umzug verkauft, verschenkt oder als Sperrmüll abholen lassen.
Das Zuknallen der Autotür riss Billie aus ihren Gedanken.
„Ich zeige dir erst mal das Haus, Billie. Das Gepäck für die Nacht können wir später holen.“ Billies Mutter legte einen Arm um die Schultern.
Das Tor aus verschnörkeltem Eisen quietschte wie ein Schlossgeist mit Zahnschmerzen, als sie es öffneten. Vom Tor und dem hohen Eisenzaun, der den Vorgarten vom Bürgersteig trennte, blätterte dunkelgrüne Farbe und zeigte rostige Stellen. Rechts und links vom Weg standen hohe Sträucher. Es roch nach feuchter Erde. Zweige knackten. Etwas huschte durch das Laub. Sie blieben stehen.
„Sicher nur ein Vogel“, hauchte Billies Mutter.
„Oder eine Maus“, flüsterte Billie. Vielleicht gar eine Ratte!
Rasch gingen sie weiter und stiegen die Treppe zur Haustür hinauf. Der schwere Schlüssel ließ sich ohne Mühe im Schloss umdrehen. Die Tür öffnete sich lautlos. Im Haus war es stockdunkel.
„Wonach riecht das so komisch, Mam?“
„Es ist ein bisschen muffig, es ist lange nicht gelüftet worden. Aber es liegt auch ein Hauch Lavendel in der Luft, riechst du das? Urgroßtante Malwine benutzte ein Lavendelparfum. Im Badezimmer steht noch eine Flasche.“
Mit ausgestreckten Händen tasteten sie sich in die Dunkelheit vor.
„Hier war doch ein Lichtschalter“, murmelte Billies Mutter. „Irgendwo auf der rechten – Ah! Hier.“
Es klickte. Hoch über ihnen ging ein schwaches Licht an. Billie sah nach oben. In einem Kronleuchter leuchteten drei Birnen. Die restlichen, mindestens vierzig, blieben dunkel. Sie standen in einem großen Flur, fast in einer Halle. Eine breite Treppe führte nach oben und auch ein Stockwerk tiefer. An den hohen Wänden hingen dunkle Ölgemälde, ein Hirschgeweih und zwei Spiegel. Die Garderobe war leer bis auf einen breitrandigen schwarzen Hut.
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Leseprobe Nr. 2
Kundschaft
Das Tor quietschte wieder. Tim verschwand im Baum. Ein sehr runde Frau mit kurzen Löckchen tippelte den Weg entlang. „Ach, hallo“, sagte sie, als sie Billie erblickte. „Bin ich hier richtig? Detektivbüro Pinkernell?“
„Ja, da sind Sie richtig. Sie können reinkommen, wenn Sie wollen. Aber ich sage Ihnen lieber gleich, dass ich die Detektivin bin.“
„Ach, wirklich? Hast Du die Anzeige aufgegeben? Sehr unternehmungslustig von dir. Eine Junior-Detektivin sozusagen, ja?“
„Ja“, sagte Billie. Genau so war es. Sie war eine Junior-Detektivin. Das hätte sie dem dicken Mann mal sagen sollen.
„Kann ich da sitzen?“ fragte die Frau. „Der Weg ... ich bin ganz außer Atem.“
Der Schaukelstuhl ächzte, als sie hineinsank. Billie setzte sich auf die Stufen.
„Also, es geht um meinen Hund, meinen kleinen Fernando. Er ist vor einer Woche aus meinem Auto verschwunden.“
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Ende der Leseproben aus „Fernando ist futsch“.
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