Leseprobe Nr. 1 aus „Der schottische Schoko-Spion“ von Gesine Schulz:
Ein Auto brummte an Billie vorbei. Ein gelber Flitzer, das Verdeck aufgeklappt. Mit einem Berliner Kennzeichen! Interessant. Noch nie hatte sie ein Auto aus Berlin in Rabenstein gesichtet.
Billie lugte um die Säule herum und sah dem Auto hinterher.
Ein paar Meter weiter kam ein Mädchen in ihrem Alter aus einem Gartentor. Es hatte schulterlange blonde Haare und trug ein rosafarbenes Sommerkleid.
Das gelbe Auto rollte an den breiten Bürgersteig und hielt neben dem Mädchen an.
Der Fahrer sagte etwas, das Billie nicht verstehen konnte. Das Mädchen trat ans Auto.
Wahrscheinlich hatte der Berliner sich verfahren und fragte nach dem Weg.
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Kannte es sich hier nicht aus? Wieder sagte der Fahrer etwas.
„Nein, das will ich lieber nicht!“, rief das Mädchen und wich ein paar Schritte zurück.
Oh? Was war das denn? Billie duckte sich, huschte ein paar Meter nach vorn und nahm hinter dem nächsten Baumstamm Deckung.
„Aber warum denn nicht?“, hörte sie den Mann sagen. „Es ist viel einfacher, wenn du eben mitkommst und mir den Weg zeigst.“
„Aber ich kenne Sie doch gar nicht.“
Billies Atem ging schneller. Der wollte sie mitnehmen? Wieso war das Mädchen noch so höflich zu ihm? Wieso rannte es nicht einfach weg? Oder zurück in den Garten? Am besten laut um Hilfe schreiend.
Lernten die hier in Rabenstein denn gar nichts in der Schule? Sie würde mal ein Wort mit dem Sheriff reden müssen.
In Berlin war eine Kriminalkommissarin in die Klasse gekommen und hatte mit ihnen geübt. Nach der vierten Stunde hatten sie das NEIN!-Sagen und Um-Hilfe-Schreien alle ganz gut drauf gehabt, sogar die schüchterne Nastassja, die sonst keinem Windhauch Konkurrenz machen konnte. Billies Schreie hatten auf dem Lautstärkemesser die höchste Punktzahl erreicht. Kein Wunder, denn sie schrie für ihr Leben ge–
Die Autotür klappte.
Billie spähte um den Baum herum. Der Typ war ausgestiegen!
„Ich verstehe ja, dass du vorsichtig bist, mein Kind. Aber mir kannst du vertrauen. Ich bin nämlich Arzt.“
Billie schnaufte. Was sollte das denn bitte bedeuten? Außerdem, behaupten konnte das jeder. Man bekam seinen Beruf ja schließlich nicht auf die Stirn tätowiert.
„Ach nein. Ich ... ich ... ich habe auch gar keine Zeit, glaube ich“, sagte das Mädchen und ließ den Kopf hängen.
„Ach, ein paar Minuten wirst du doch übrig haben, um einem Doktor zu helfen, der sich verfahren hat. Komm schon. Zum Dank bekommst du auch eine Tafel Schokolade. Sie liegt im Handschuhfach. Na?“
Billie lief das Wasser im Munde zusammen.
Das Mädchen sah auf.
Wieso rannte es denn nicht fort? Der Trick mit der Schokolade hatte doch einen mindestens vierzehn Meter langen Bart, so alt war der schon.
„Wie heißt du denn?“
„Carolin-Marie.“
„Carolin-Marie ... welch ein hübscher Name! Ebenso hübsch wie seine Besitzerin. Also, was sagst du, Carolin-Marie? Zeigst du mir den Weg? Ich verpasse sonst noch meinen Termin. Das wäre sehr unangenehm für mich. Und daran willst du doch bestimmt nicht schuld sein, oder?“
Carolin-Marie schüttelte den Kopf.
„Na, da bin ich aber froh! Dann steig schon ein.“
„Ach, lieber nicht. Meine Eltern haben mir verboten –„
„... hilfsbereit zu sein?“
„Nein ... aber ... also ...“
Der Mann sah sich um. Zum Glück erst in die andere Richtung.
Billie zog ihren Kopf ein.
„Genug gefackelt, mein Mädchen! Jetzt kommst du mit!“
Was? Er würde doch nicht -
„Ach, bitte, nein ...“, wisperte Carolin-Marie.
Billie sprang hinter dem Baum hervor.
Der Mann war dabei, Carolin-Marie ins Auto zu zerren. Oder zu stopfen.
Billie holte tief Luft. Sie senkte den Kopf und galoppierte los. Dabei kreischte sie wie eine Schiffssirene.
Der Mann wandte sich um. Sein Erstaunen währte nur zwei Sekunden, dann rammte Billie ihren Kopf in seine Magengegend.
„Hmpf ...“, machte er und taumelte gegen das Auto. Das Mädchen hatte er losgelassen.
„Renn!“, schrie Billie. „Hilfe! Hilfe! Polizei! Los, renn! Komm mit!“ Billie machte ein paar Schritte, aber Carolin-Marie blieb stehen.
Sie sah Billie mit großen Augen an.
Hatte sie einen Schock? Billie griff nach ihrem Arm. „Nun komm schon!“
„Hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?“ Carolin-Marie wand sich aus Billies Griff. „Du hast ihm wehgetan.“
Sorgen hatte die ... Oh nein! Jetzt ging sie auch noch zu zurück und half ihm auf! Begriff die denn gar nichts?
Billie fasste sie von hinten um die Taille und zerrte sie weg. Dem Mann trat sie zweimal feste vors Schienbein.
Er heulte auf.
Carolin-Marie schrie.
Wurde auch höchste Zeit.
Sie ließ sich gegen Billie fallen und schrie „Hilfe! Eine Wahnsinnige! Hilfe Hilfe Hilfe!“ Sie schrie und strampelte mit den Beinen.
Sie fielen beide um. Carolin-Marie landete auf Billie und drückte ihr alle Luft aus den Lungen. Puh! Die war schwer wie ein Mehlsack. Billie schob ihre Last von sich runter und setzte sich auf.
Und was war das? Mit einem Mal wimmelte es von Leuten! Wo kamen die denn plötzlich alle her? Sie befühlte ihren Hinterkopf. Du dicke Socke, wenn das keine Beule geben würde.
„Bist du in Ordnung?“, fragte eine Frau in Jeans und einem bauchfreien Oberteil.
Billie fing an zu nicken. Ach, die meinte Carolin-Marie.
„In Ordnung? In Ordnung? Natürlich bin ich nicht in Ordnung! Schau dir das Kleid an! Der Saum ist gerissen. Und ich werde voller blauer Flecken sein, wenn ich nicht sofort ein paar Eispackungen bekomme und ich –„
„Aber Katja-Kind ...“, sagte die Frau.
Katja? Hatte sie den Mann angelogen? Wäre natürlich nicht schlimm, aber warum hatte sie das getan?
„Sag nicht Katja-Kind zu mir!“, zischte das Mädchen.
Na, wie hieß es denn nun?
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Leseprobe Nr. 2:
Billie ließ den Umschlag hinter ihrem Rücken verschwinden. „Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht zum Rennen?“
Jo-Jo kam mit langsamen Schritten näher. „Ach, heute Morgen soll ich mich allein amüsieren. Mein Alter will ein paar Kumpel treffen.“
„Na gut. Aber amüsier dich woanders“, sagte Billie.
„Wow – ‘ne Hängematte! Das ist der Platz für mich.“
„Heh! Nein, das ist meine. Du kannst wenigstens fragen, ob du –“
Jo-Jo duckte sich, langte um Billie herum und entriss ihr den Umschlag.
Loreley kreischte auf.
Billie lief rot an. „Gib ihn sofort zurück!“
Jo-Jo tänzelte umher und hielt den Umschlag hoch in die Luft. „Erst mal sehen, was wir hier haben... 'Höchste Geheimhaltung?' Oh-oh! Was kriege ich denn dafür, wenn ich ihn zurück- Uhgh!“ Er taumelte unter Billies Aufprall, fing sich aber wieder und rannte los.
„Hinterher!“, rief Billie und wetzte ihm nach.
„Oh, mein Umschlag! Oje-oje! Fass ihn, Billie!“
„Bleib stehen, du feige Nulpe!“ Billie nahm eine Abkürzung mitten durch einen Busch. „Aua! – Stopp! Haltet den Diiiiiieb!“
Als sie an der Bank vorbeisauste, hatte sich der Abstand zu Jo-Jo verringert.
Er lief auf den Frühstückstisch zu.
Herr Doktor Mann ließ die Zeitung sinken und schüttelte den Kopf. „Ruhe nenne ich das nicht.“
Herr Rehbein stand auf. Als Jo-Jo an ihm vorbeilief, pflückte er dem Jungen den Umschlag aus der Hand.
Jo-Jo bremste ab. „Heh! Her damit!“
„Einen Augenblick“, sagte Herr Rehbein mit sanfter Stimme. „Mir scheint, hier gibt es ein kleines Missverständnis?“
„Geben Sie es ihm nicht!“ Billies Atem ging stoßweise. „Das ist meins. Ich meine, unseres. Er hat es einfach geklaut.“
Herr Rehbein sah auf den Umschlag. „Das ist ja sehr … Oh! Ein geheimes Rezept …“
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Ende der Leseprobe aus „Der schottische Schoko-Spion“.
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